Eines der faszinierendsten ungelösten Verbrechen Englands ereignete sich 1919 in Leicestershire. Es ist der Mordfall Bella Wright - auch bekannt als das "Geheimnis des grünen Fahrrads".
Mein Freund und Autorenkollege Neil R.A. Bell, der den Fall seit Jahrzehnten recherchiert, hat dazu nun gemeinsam mit der Universität von Leicester eine sehenswerte Ausstellung organisiert.
Der Fall:
Am Abend des 5. Juli 1919 stieß der Farmer Mr.
Cowell auf die in einem einsamen Feldweg liegende Leiche einer jungen Frau; sie schien, nur wenige Meter südöstlich der Abzweigung nach Little Stretton, von ihrem Fahrrad gestürzt zu sein, denn eine hässliche Blutlache hatte sich um ihren Kopf herum gebildet. Sie lag halb auf dem Rücken, halb auf der linken Seite. Cowell rührte das Mädchen nicht an, sondern verständigte die Polizei.
Der örtliche Police-Constable Hall untersuchte die Tote und vermutete zunächst ebenfalls einen Unfall. Möglicherweise hatte das Mädchen ein wenig zu heftig in die Pedale getreten, oder war an purer Entkräftung gestorben ...
Die Tote wurde nach Little Stretton gebracht, wo man sie in Ermangelung einer Leichenhalle in einem winzigen Gebäude aufbahrte, welches noch immer als Little Chapel bekannt ist. Doch bei der gerichtlichen Untersuchung der Leiche (sie war mittlerweile als die einundzwanzigjährige Annie Bella
Wright aus Staunton identifiziert worden) entdeckte man ein winziges Loch in ihrer linken Schläfe. Auch die Verletzung der rechten Gesichtshälfte sah eher wie die Austrittswunde einer Kugel aus, als durch einen Sturz vom Fahrrad verursacht. Constable Hall kehrte daraufhin nochmals an den Ort des Geschehens zurück und fand dort eine ins Erdreich eingetretene Gewehrkugel. Auf dem weißen Rahmen eines nahegelegenen Holztores entdeckte er nebenbei blutige Vogelspuren. In unmittelbarer Nähe des
Tatortes fand er schließlich eine leblose Krähe. Wie es aussah, hatte sie vom Blut der Verunglückten getrunken und war daran verendet ...
Ein bislang ungelöstes Rätsel war geboren.
Bella Wright hatte bei ihren Eltern in einem kleinen Cottage in Stoughton gelebt. Von dort aus war sie am Nachmittag zu einer Radtour nach Gaulby aufgebrochen, um Ihren Onkel George Measures in dessen Haus Nr. 2 Front Street zu besuchen. Wie das Mädchen ihm erzählte, hatte sie unterwegs einen jungen Mann auf einem grünen Fahrrad getroffen, der nun auf sie wartete. Sowohl Onkel Measures als auch dessen Schwiegersohn Mr. Evans sahen den Fremden in einiger Entfernung auf der Straße stehen. Er war ungepflegt und für Bella viel zu alt. Sie gaben dem Mädchen den Rat, ihn ziehen zu lassen.
Mr. Evans, ein Zweiradfan, ging hinaus und sprach mit dem Mann über dessen neuwertiges grünes Rad vom Typ BSA, versäumte indes, ihn nach seinem Namen zu fragen. Der Fremde radelte schließlich davon. Bella verabschiedete sich eine halbe Stunde später. Als ihr Onkel sie das nächste Mal sah, lag sie bleich und seelenlos auf einem primitiven Sektionstisch in Little Stretton.
Ihre Beerdigung fand am 11. Juli in Stoughton auf dem Friedhof der Kirche St Mary and All Saints’ statt. Viele hundert Menschen besuchten den Gottesdienst und erwiesen der Verstorbenen die letzte Ehre. Doch wer war der Mörder? Sehr bald nach der Entdeckung der Toten wurde der junge Mann auf dem grünen BSA-Fahrad des Mordes bezichtigt und von der Polizei gesucht. Die Beamten fanden ihn schließlich im Haus Nr. 54 Highfield Street, Leicester.
Sein Name war Ronald Vivian Light.
Von ihm war bekannt, dass er ein grünes Rad der gesuchten Marke besessen hatte. Doch dieses war seit dem Mord verschwunden. Von der Polizei befragt, leugnete er seine Bekanntschaft mit Bella zunächst, musste später jedoch eingestehen, dass er der Mann gewesen war, der vor Mr. Measures Cottage auf sie gewartet hatte. Eine Gegenüberstellung mit Mr. Evans bestätigte dies.
Und was war mit dem Fahrrad geschehen? Light gab zu, es auseinandergenommen und in den nahen Kanal geworfen zu haben. Taucher der Polizei fanden es schließlich. Ronald Light wurde unter dringendem Mordverdacht verhaftet. Vor Gericht ließ er sich durch den brillanten Strafverteidiger Sir Edward Marshall Hall vertreten, dem es tatsächlich gelang, die Geschworenen von der Unschuld seines Schützlings zu überzeugen. Er bat Light in den Zeugenstand und ließ ihn in eigenen Worten schildern, wie er Bella Wrights Bekanntschaft rein zufällig gemacht und bei der Reparatur ihres Hinterrades - das sich auf der Fahrt nach Gaulby gelöst hatte - behilflich gewesen war. Sein BSA-Rad habe er nur deshalb verschwinden lassen, weil den Zeitungsmeldungen zu entnehmen gewesen war, dass für die Polizei von vornherein festgestanden habe, bei dem Besitzer des Rades müsse es sich zwingend um den Mörder des Mädchens handeln. Light gab zu, dass es ein Fehler gewesen war, das Fahrrad verschwinden zu lassen, fügte aber hinzu, er sei dermaßen hilflos gewesen, dass er einfach keine andere Möglichkeit gesehen habe.
Die Jury glaubte ihm und sprach in frei. Annie Bella Wrights Mörder wurde niemals gefunden. Auch der Tod der Krähe blieb ein Rätsel.
Viele Jahre später entwarf ein Krimiautor folgendes Szenario: Bella radelte allein die von hohen Büschen gesäumte Gartree Road entlang. Zur selben Zeit lag jemand viele hundert Meter entfernt irgendwo in den Feldern auf der Lauer, um Vögel zu schießen. Er feuerte eine Kugel ab, diese durchschlug zwar wie geplant das anvisierte Federfieh, flog aber weiter. Und so tötete das Geschoss - vom Schützen unbemerkt - jene geheimnisvolle Krähe, ehe es nur Bruchteile von Sekunden später auch Bella traf.
Inoffiziell heißt es dagegen, Light habe nach der Gerichtsverhandlung ein Geständnis abgelegt. Er habe Bella seine Armeewaffe zeigen wollen und diese sei versehentlich losgegangen.
Der Fall Bella Wright, ob nun Unfall oder vorsätzlicher Mord, beschäftigt die Briten noch immer und ist nach wie vor als das „Geheimnis des grünen Fahrrads“ bekannt.
Das Rad selbst wurde jahrelang von einem örtlichen Zweiradhändler zu Dekorationzwecken genutzt. Noch in den 1980ern versuchte das Museum für Lokalgeschichte, den Sturkopf zum Verkauf zu bewegen - ohne Erfolg.
Heute ist das Fahrrad verschwunden.
Neil Bell hat unzählige Artikel zur Kriminalgeschichte und ein Buch zum Fall Jack the Ripper geschrieben. Darüber hinaus arbeitet er für zahlreiche Fernsehsender und ist als Berater für die Fernsehserie RIPPER STREET tätig.